Eine Geschäftsreise hatte den Schweizer Henry Dunant im Juni 1859 in die italienische Stadt Solferino geführt. Dort wurde er Zeuge der schrecklichen Zustände unter den Verwundeten, die die Schlacht zwischen Österreich und Sardinien überlebt hatten. Die Szenen, die er damals sah, konnte er nicht hinter sich lassen. Und aus heutiger Sicht ist das ein großes Glück – es hat vielen anderen Menschen das Leben gerettet. Denn Dunant entwickelte damals die Idee, in allen Ländern Hilfsorganisationen zu gründen. Daraus wurde erst ein Buch. Und am 10. März 1875 die erste Freiwillige Sanitätskolonne München. 26 tatkräftige Münchner legten damals den Grundstein für das Rote Kreuz München. Heute, 150 Jahre später, sind 4300 ehrenamtliche und 1300 hauptamtliche Mitarbeiter rund um die Uhr für die Menschen in Stadt und Landkreis München im Einsatz. Angefangen hat damals aber alles mit drei freiwilligen Sanitätern, die pro Schicht zwölf Stunden Dienst leisteten.
Der Mann, der Zeitreisen zu den Anfängen der Hilfsorganisation möglich macht, heißt Volker Schneider. Er leitet das Rotkreuz-Museum in München und verbringt seine Zeit genauso gerne in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Über Jahrzehnte hat der 65-Jährige alte Geräte, Uniformen und Dokumente wie Puzzlestücke zusammengetragen. Zum Beispiel die Handmarie – eine alte Rädertrage, mit der die Verletzten seit 1890 transportiert wurden. In den vergangenen Jahrzehnten war sie sogar noch als Reservetrage auf dem Oktoberfest im Einsatz. Bis Schneider sie entdeckte und in das Museum rettete. Dort steht sie heute als Blickfang – vor Figuren, die die alten Uniformen tragen und einem alten Beatmungsgerät aus den 1930er-Jahren. Im Museum zeigt er, wie sich die Ausrüstung der Retter in den vergangenen 150 Jahren verändert hat.
Vieles kann er anhand alter Dias rekonstruieren, die ältesten Aufnahmen stammen aus dem Jahr 1880. Deshalb weiß Volker Schneider, dass die Retter damals mit einer Kutsche unterwegs waren. Pferde hatten sie allerdings nicht, die mussten sie vom königlichen Hof leihen. Zumindest bis 1898. „Dann hatten sie selbst Pferde.“ Die Einsatzkutschen waren immer mit Pferden bespannt. Deshalb hatten die ersten Rotkreuzler eine Ausrückzeit von nur zwei bis drei Minuten. Das erste Sanitätsautomobil schafften die Einsatzkräfte im August 1906 an. Nutzen konnten sie es leider nicht lange, erzählt Schneider. „Schon ein Jahr später wurden sie bei einem Einsatz im Forstenrieder Park von einer Wildschwein-Rotte gerammt.“ Das Automobil kippte um, geriet in Flammen und brannte aus.
Es gibt viele Anekdoten, die Volker Schneider erzählen könnte. Er tut es auch regelmäßig. Seit vor 26 Jahren das Rotkreuz-Museum gegründet wurde, empfängt er regelmäßig Besucher und führt sie durch seine kleine Schatzkammer. „Eigentlich bräuchte ich noch viel mehr Platz“, sagt er. In seinem Lager hat er noch viele weitere Stücke aus der Vergangenheit, die er gerne präsentieren würde. Schneider ist seit einem halben Jahrhundert beim Roten Kreuz aktiv, er hatte viele Führungspositionen und kennt viele Kreisverbände. Überall weiß man um seine Leidenschaft für die Geschichte des Verbands. Ohne Vergangenheit keine Zukunft, findet er. Manchmal erschreckt er sich auch ein bisschen, wie sehr sich die Geschichte zu wiederholen scheint. In einem Buch über das Rote Kreuz, das noch mit einem Reichsadler und Hakenkreuz versehen ist, hat er erst neulich einen Artikel gefunden über die Arbeit der Rotkreuz-Schwestern in der Ukraine 1942. „Es liest sich, als wäre das heute“, sagt er nachdenklich.
Natürlich ist viel passiert in den vergangenen 150 Jahren. Die erste Sanitätskolonne war bereits bei zahlreichen Katastrophen im Einsatz. Zum Beispiel beim Bauunglück im Maximilianskeller 1897 oder beim Einsturz der Corneliusbrücke 1902. Doch die Herausforderungen und Aufgaben wuchsen. Und mit ihnen nicht nur der Rettungsdienst und der Katastrophenschutz. Immer mehr engagierte sich das Münchner Rote Kreuz auch für benachteiligte Menschen und baute Unterstützungsangebote aus. Heute sind die Retter in Wasserwacht, Bergwacht, Jugendrotkreuz, Wohlfahrt und Sozialarbeit rund um die Uhr für die Münchner im Einsatz. Allein im vergangenen Jahr gab es in Stadt und Landkreis München 82 000 Einsätze für Rettungsdienst und Krankentransport. Daneben schulten die Rotkreuzler 14 000 Menschen in Erster Hilfe und betreuten 900 Kinder in Kitas.
Manchmal macht es Volker Schneider ganz demütig, wenn er darüber nachdenkt, dass er Teil eines Verbandes mit so langer Geschichte ist. Auch Henry Dunant hätte sich wohl nicht träumen lassen, was aus seiner Idee in 150 Jahren werden würde. Als Schweizer hat er sich damals für das Symbol der Schweizer Flagge entschieden, mit vertauschten Farben. Es sollte die Neutralität der Retter unterstreichen. Auch daran hat sich bis heute nichts geändert. Volker Schneider sagt: „Neben Coca-Cola ist das rote Kreuz auf weißem Untergrund die bekannteste Marke der Welt.“
Das 150. Jubiläum feiert das Rote Kreuz München am 10. Mai mit einem großen Fest auf dem Marienplatz. Von 10 bis 17 Uhr ist ein Aktionstag mit vielen Mitmachangeboten, Vorführungen und Infoständen geplant. Auch Einsatzfahrzeuge und Tauchcontainer können genau inspiziert werden.